Ein warmer Herbsttag ergießt sich über die Landschaft. Je höher die Temperaturen kletteren, umso mehr verdrängen die Wolken die Sonnenstrahlen. Trotzdem erstrahlt der Wald in gold-gelb. Orangetöne und wenige grüne Nuancen durchbrechen die sonnengelbe Herbstpracht. Um in dieser Farbexplosion abzutauchen, drang ich seit geraumer Zeit in unsere heimischen Wälder vor. Vogelgezwitscher und Gänseschnattern begleiten mich. Vertieft in die bunte Laubpracht tauche ich weiter in die Tiefen der Wälder ein. Meine Gedanken sind so vertieft, dass ich nicht merke, dass der Wald verstummt. Ein leichter Wind zieht auf. Er durchbricht die warme Herbstluft. Ein kleiner Gänseschauer zieht sich meine unbekleideten Arme entlang und reißt mich aus der Tiefe meiner Gedanken. Ich blicke auf. Da ist jemand. Der Wind frischt weiter auf. Aber er ist nicht der einzige Grund, wieso der Schauer sich über meinen ganzen Körper verteilt. In einigen Metern vor mir sitzt jemand auf einem Motorrad. Gemächlich zieht er sich einen Kürbis über den Kopf. Ich kann sein Gesicht nicht mehr erkennen, aber das Kürbisgesicht schaut nicht sympatisch rein.

Der Kürbiskopf dreht sich mir zu. Die Schauer lassen meinen Körper erzittern. Mein Instinkt drückt mich weiter an den Baum. „Schön, dass du es geschafft hast.“, ruft der Kürbismann in dunkler Stimme in den Wald. Mit jedem Wort schwingt eiskalte Luft mit. Jedes Wort sorgt für mehr Unruhe in mir. Mich kann er nicht meinen. Ich bin doch nur zufällig hier. „Ich habe gehofft, dass du dich für unser Date entscheidest. Wollen wir das Eis brechen?“, ruft er erneut. Die kalte Luft, die mit jedem Wort auf mich trifft, lässt meine Lunge einfrieren. Ich antworte nicht. Der Kürbismann nimmt langsam die Hände vor den Kopf, bis er seine Augen bedeckt hat. „Lass uns ein Spiel spielen. Verstecken? Ich geb dir einen Vorsprung.“, spricht er mit dunkler Stimme in meine Richtung und zählt langsam von zehn herunter.

Mit jedem Wort friere ich mehr ein. Die Angst lässt mich erstarren. Ich möchte schreien, aber er bleibt mir in der Kehle stecken. Die eisige Luft, die die Wärme des Tages vertreibt, lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Der Kürbismann hat zu Ende gezählt. Ich habe mich keinen Millimeter bewegt. Er nimmt die Hände runter und lacht. Sein dröhnendes Lachen lässt die Blätter um uns erzittern. „Du brauchst keine Hilfe? Keinen Vorsprung? Trotzdem solltest du dich auf den Weg machen, sonst hab ich ja sofort gewonnen und ich will doch einen netten Eindruck machen.“

Auch wenn weiterhin eiskalte Luft mit seinen Worten mitschwingt, hat sich mein Körper nun an den Temperaturunterschied gewöhnt. Meine Angst steigt, sodass sie von der Starre in den Fluchtmodus wechselt. Ich wende mich von dem Kürbisgesicht ab. Mein Atem ist schon schwer, bevor ich überhaupt zum Sprint angesetzt hab. Meine Füße setzen sich in Bewegung. So schnell sie mich tragen, verlasse ich den Baum, der mich gestützt hat. Ich renne auf dem Waldweg entlang. Das Lachen verfolgt mich, begleitet wird es durch ein sanftes Brummen des Motorrads. Mein Atem geht schwerer. Meine Beine werden weicher. Ich muss ihm entkommen! Deshalb wende ich mich von dem Waldweg ab. Im Zickzack, wie ein Hase der einem Raubtier entkommen will, laufe ich in den dichten Wald. Einige Meter nach dem Weg lasse ich mich hinter einem umgefallenen Baum fallen. Meine Beine tragen mich nicht mehr. Das Lachen und Brummen wird lauter. Ich sehe ihn. Er ist auf dem Waldwegabschnitt, auf dem ich vor einer Minute noch entlang gerannt bin. „So macht es doch Spaß, oder nicht?“, lacht der Kürbismann. Seine tosende Lache lässt die Blätter an den Bäumen und auf dem Waldboden tanzen.

Er fährt an mir vorbei. Sein Motorrad trägt ihn den Waldweg weiter hinauf, weg von mir. Erleichterung macht sich breit. Ich bin noch nicht entkommen, aber er hat mich verloren. Ein paar Minuten nehme ich mir noch, um einen Plan zu schmieden und damit sich meine Lungen wieder mit Luft füllen. Sein Motorrad scheint nicht geeignet zu sein, um abseits der Wege unterwegs zu sein. Somit nehme ich meinen Weg quer durch den Wald wieder auf. Ich stolpere über Äste. Meine Kleidung reißt sich an dornigen Büschen auf. Die Kälte beißt sich in meinen Gliedern und Lunge fest. Aber das Problem an Wäldern ist, dass es immer mal wieder Waldwege gibt. Diesen begegne ich auch beim Durchqueren. Bei jedem Weg, ist der Plan, mich zu verstecken, den Weg zu beobachten und wenn er frei ist, ihn schnell zu überqueren. Das Brummen ist nicht weit entfernt, aber das Lachen ist verstummt. Überquerung eins klappt. Überquerung zwei funktioniert. Meine Beine setzen sich in Bewegung, um Überquerung drei abzuschließen, da heult plötzlich ein Motor auf. Schnell schmeiße ich mich auf den Boden. Mein Liegeplatz ist nur knapp neben dem Waldweg, während die Räder die sonnengelben Blätter auf diesem aufwirbeln.

„Okay, du hast gewonnen. Netten Eindruck wollt ich machen, also bin ich mal Gentleman. Aber jeder hat eine zweite Chance verdient, oder?“, tönt seine Stimme beim Vorbeifahren in mein Ohr. Eine kurze Stille folgt, als würde er eine Antwort erwarten. Nur das Brummen des Motors hallt durch den Wald. „Zweite Chance? Du bist doch auch nett. Also gibst du mir eine zweite Chance.“ Mit dem letzten Wort lässt er den Motor aufheulen und beschleunigt entgegen meiner Laufrichtung. Ich atme auf. Ich atme durch. Dann rappel ich mich auf und renne weiter. Weiter Richtung Sicherheit sollen mich meine Beine bringen. Nach weiteren Kilometern Busch, Baum, Erdhügeln, verrottenden Baumstämmen und Blätterhaufen blitzt eine Landstraße durch die Bäume. Sicherheit! Ein Motorengeräusch dringt an mein Ohr. Meine Beine wollen sich schon zum Stop in den Boden stemmen, aber mein Gehirn erkennt, dass es ein Auto ist. Ich renne noch schneller Richtung Straße. Mit hoch gerissenen Armen laufe ich auf die Straße zu. Sicherheit! Aber ich ernte nur ein hupendes Ausweichmanöver. Als das Auto an mir vorbei zieht, eröffnet sich mir ein Blick auf den Rest der Straße. Auf der anderen Straßenseite steht er. Der Kürbismann. „Gewonnen.“, lacht er dröhnend, während seiner Motor genauso donnernd anspringt. Er lenkt in meine Richtung und fährt auf mich zu. Der Schrei, der sich in meiner Kehle festgekrallt hatte, löst sich. Der Wald nimmt die Komposition des spitzen Schreis und der donnernden Begleitgeräusche in sich auf. Die Komposition hallt wieder und wieder, als würde ein ganzes Orchester sie spielen. Es gibt kein Entkommen.

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